unfassbar real
Der Moment des Aufwachens. // Der Moment, in dem hinter dem Nachrichtensprecher die Twin Towers einzubrechen begannen. // Die Geburt des ersten Kindes. // Mit tausend anderen Fans in der Menge stehen und mitsingen // Der Fall der Berliner Mauer. // Ein Auto rast in eine Menschenmenge. // Der Sonnenuntergang in lauer Sommerluft. // Der Abend, an dem die ersten Hochrechnungen das vorläufige Wahlergebnis zeigen. // Der erste Kuss. // Der Gang durch einen kahlen, zerfressenen Wald. // Vor Lachen weinen müssen. // Das Nordlicht …
unfassbar real. Ein Ausspruch, der in den unterschiedlichsten Situationen durch unsere Gedanken zieht – etwa angesichts weltbewegender Ereignisse, die uns mit erschütternder Wucht treffen; Momente, in denen das Unbegreifliche plötzlich Wirklichkeit wird. Wie zum Beispiel, wenn weltweit Menschen an die Macht kommen, die die Demokratie gefährden.
Nach Die Würde des Menschen ist unantastbar der Spielzeit 2024/25 nun also ein Motto, das Raum für verschiedenste Assoziationen lässt und gleichzeitig den Gedanken weiterführt: Was ist nach 75 Jahren Grundgesetz – Frieden, Freiheit, Sicherheit auf der Basis demokratischer Grundordnung – aus unserem Rechtsstaat geworden? Was geschieht in der Welt, welche Mächte spielen dort und wie ändert das womöglich unser Dasein? Was ist überhaupt »real«?
In Zeiten, in denen auch und gerade von mächtigen Menschen »Wahrheiten« durch Behauptungen hergestellt und »legitimiert« werden, in denen mit den sozialen Medien ein Kommunikationsinstrument in die Welt gekommen ist, das zwischen »Wirklichkeit« und ihrem Gegenteil nicht mehr unterscheidet, ist die Frage nach dem Realen zur Rätselfrage geworden. Was kann ich überhaupt noch glauben von dem, was mich an Informationen erreicht? Wem kann ich noch trauen? Wie kann ich mich objektiv informieren, um nicht selbst unabsichtlich zum Multiplikator von Gerüchten oder Fake News zu werden?
Gerade das Unfassbare im Realen kann Angst machen. Es verunsichert uns, lässt uns zögern vor dem, was kommt – es macht die Zukunft unberechenbar. Doch unfassbar ist nicht nur ein Wort des Schreckens. Es beschreibt ebenso das Außergewöhnliche, das Atemberaubende, das unsere Erwartungen übertrifft und unsere Vorstellungskraft herausfordert. Das Atemberaubende, das uns die Realität zuweilen bietet, kann auch Hoffnung geben, sich dafür einzusetzen, dass es diese Momente weiterhin und immer wieder geben wird – für alle.
Das Theater ist ein Ort, an dem sich genau diese Kraft entfaltet. Die flüchtige Kunst, die im Entstehen bereits zur Vergangenheit wird, der flüchtige Moment, der unwiederbringlich verloren geht. Und der doch ein beliebig großes Publikum zum gemeinsamen Atmen, Schweigen, Zuhören, Mitfühlen bewegen kann. »Das macht was mit mir« – ein Ausdruck, der heute oft zu hören ist – bringt es gut auf den Punkt: Auch wenn das Kunstwerk schon wieder verschwunden ist, bleiben theatrale Vorgänge lange hängen. Und das Entscheidende: Nur durch das Zusammen-im-Raum-Sein von Darstellenden und Zuschauenden entsteht die Aufführung überhaupt erst – im Jetzt und Hier. Nachdem man sich auf seinem Sitz niedergelassen hat und der mit der Ansage »Bitte schalten Sie Ihr Mobiltelefon nun ganz aus« verbundenen Einladung gefolgt ist, die eigene Realität für eine gewisse Zeit vor der Tür zu lassen, begibt man sich für die Dauer des Theaterabends in eine neue Realität.
Das Theater, dem in Zeiten der Digitalität sein Verfallsdatum bereits mehrfach prognostiziert wurde, besteht förmlich aus Realitäten, die real erschaffen werden. Dort stehen, sprechen, singen, tanzen und schwitzen echte Menschen auf der Bühne. Echtes Holz bewegt sich, echter Stoff. Keine Bots. Keine möglicherweise generierten Bilder.
Das Potenzial des Unfassbaren im Theater zeigt sich durch die Emotionalität, die durch das Theatererlebnis ausgelöst wird. Es ist ein Medium, das unfassbar real ist – sowohl in seiner unmittelbaren Wirkung auf das Publikum, als auch in dem, was es abbildet.
Unsere Bühnenfiguren sind häufig mit Einbrüchen des »unfassbar Realen« konfrontiert und nicht selten erwächst genau daraus die Handlung. So etwa das Kind Anastasia, das die Erschießung seiner Familie miterlebt – und überlebt. Ebeneser, der am eigenen Leib erfährt, wie sich das vertraute Heim auflöst, nachdem sein Vater arbeitslos geworden ist und nur Sammy als einzige zu wissen scheint, wie sich ein sozialer Abstieg anfühlt. Die Hausangestellte Ninetta, die sich des (ungerechtfertigten) Vorwurfs erwehren muss, einen silbernen Löffel gestohlen zu haben, und dafür kurzerhand zum Tode verurteilt wird. Wenn Dilek beobachtet, wie die Politik im Heimatland Türkei die familiären Strukturen bis nach Deutschland zerfrisst und Gräben aufreißt. Ob man aus den Machenschaften des listigen Reineke Fuchs, wie ihn Goethe aus seiner Fabelwelt herausgeschrieben hat, Bezüge zur heutigen Situation ziehen kann oder mit Sally Bowles aus dem Musical Cabaret, das im Berlin zur Zeit der Machtergreifung Hitlers spielt, fragt: »Was hat Politik denn mit uns zu tun?«
Theater stellt Realitäten auf die Bühne, die mal waren, die heute noch sind und die uns ein Wegweiser sind bei der Frage, wo es hingehen soll – so die getanzte Hoffnung Everything will be ok. Theater ist ein Ort, der Utopien entwerfen darf, und uns dazu inspiriert, eigene Utopien zu entwerfen, wenn wir das Theater wieder verlassen haben. Es spiegelt Wirklichkeiten, macht sie erfahrbar, bringt Menschen zusammen. Hier entsteht ein Raum, der Brücken zwischen den Realitäten der Einzelnen schlägt.
Seit unserer letzten Motto-Verkündung hat sich einiges verändert – vieles Unerwartete, vieles Unfassbare. Doch die Aufgabe, unsere Demokratie zu schützen, bleibt weiterhin bestehen. Wir als Teil der Stadtgesellschaft wollen weiterhin »unfassbar real« sein. Und so führen wir den Dialog mit Ihnen, unserem Publikum, fort, tauschen uns über Realitäten aus, hören zu, diskutieren, geben uns gegenseitig Halt und knüpfen Netzwerke, um das unfassbare zivilgesellschaftliche Engagement Bielefelds weiter zu stärken.
Premierenübersicht
Anastasia – Das Musical
Stephen Flaherty / Terrence McNally / Lynn Ahrens
20.09.25. Stadttheater
Peter Grimes
Benjamin Britten
11.10.25. Stadttheater
Die diebische Elster (La gazza ladra)
Gioachino Rossini
06.12.25. Stadttheater
Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat
Elisabeth Naske
Januar 2026. Rudolf-Oetker-Halle, Foyer
Kassandra (Uraufführung, spartenübergreifend)
Mathis Nitschke / Christa Wolf
21.02.26. Stadttheater
Le Grand Macabre (Lichtspieloper)
György Ligeti
13.03.26. Rudolf-Oetker-Halle
Candide
Leonard Bernstein
25.04.26. Stadttheater
Peter Pan (spartenübergreifend)
James Matthew Barrie
16.05.26. Stadttheater
Der Troubadour (Il trovatore)
Giuseppe Verdi
13.06.26. Stadttheater
Premierenübersicht
Food for Thought
Roy Assaf / Sarah Balzinger und Isaiah Wilson
31.10.25. Stadttheater
360° (Uraufführung)
Felix Landerer / Marion Zurbach
23.01.26. TOR 6 Theaterhaus
Tanzgastspiel
14./15.02.26. Stadttheater
Everything Will Be Ok
Felix Landerer
11.04.26. Stadttheater
Carte Blanche (Uraufführung)
Ensemble TANZ Bielefeld
Juli 2026
Premierenübersicht
State Of The Union (Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst)
Nick Hornby
12.09.25. Theater am Alten Markt
Reineke Fuchs
Johann Wolfgang von Goethe
13.09.25. Stadttheater
Wutschweiger
Jan Sobrie / Raven Ruëll
19.09.25. TAMDREI
Schleuderdrama (Arbeitstitel)
Laura Naumann
14.11.25. Theater am Alten Markt
Die kleine Hexe (Familienstück zur Weihnachtszeit)
Otfried Preußler
15.11.25. Stadttheater
Bondi Beach (Die Ekstase der späten Jahre)
Rebekka Kricheldorf
29.11.25. Theater am Alten Markt
Kangal (Uraufführung)
Anna Yeliz Schentke
23.01.26. Theater am Alten Markt
Kleiner Mann, was nun?
Hans Fallada
24.01.26. Stadttheater
Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt
Felicia Zeller
29.01.26. TAMDREI
Hotel der Helden
Georg Böhm
13.03.26. TAMZWEI
Aimée und Jaguar
Erica Fischer
20.03.26. Theater am Alten Markt
Herzfaden (Roman der Augsburger Puppenkiste)
Thomas Hettche
21.03.26. Stadttheater
Non-existent
Natalka Vorozhybt
23.05.26. TAMZWEI
PRemiere
Kritter (Arbeitstitel / Uraufführung, spartenübergreifend)
Sina Ahlers / Zara Ali / Katharina Mänz
29.05.26. Theater am Alten Markt
Premierenübersicht
Parallele Welten – Wann ist ein Mann ein Mann
06.12.25. TAMDREI
Schrittmacher – Traces
Community-Dance-Projekt mit dem TANZ-Jugendclub
30.01.26. TOR 6 Theaterhaus
Jugendclub
14.02.26. TAMZWEI/DREI
Schrittmacher – Power To The People
Community-Dance-Projekt
20.03.26. TOR 6 Theaterhaus
Teenclub
11.04.26. TAMZWEI/DREI
Selbstauslöser
12.06.26. TAMZWEI/DREI
Schrittmacher – Everything Will Be Ok
Community-Dance-Projekt
20.06.26. Stadttheater