Interview Produktionen Bielefelder Philharmoniker

Das Haus am Michaelerplatz – eine Zeitmaschine!

Sängerin Mayan Goldenfeld im Gespräch mit Dramaturgin Laura Herder über Idee und Programm des 6. Kammerkonzerts.

»Vielleicht wäre Haydn nicht Haydn geworden, wäre er nicht im Michaelerplatz eingezogen.«

Mayan, du bist als Sängerin am Theater Bielefeld nicht nur Teil unseres Gesangsensembles, du arbeitest spartenübergreifend auch im Schauspiel und in den verschiedensten Formaten – du bist sehr vielfältig. So hattest du auch die Idee zum Programm des 6. Kammerkonzerts in dieser Saison: »Das Haus am Michaelerplatz« mit Kompositionen von Nicola Antonio Porpora, Joseph Haydn und vor allem Marianna Martinez. Wie bist du auf dieses ausgefallene Programm gekommen?

Bevor ich ans Theater Bielefeld kam, erst ins Bielefelder Studio und dann als festes Ensemblemitglied im Musiktheater, habe ich hauptsächlich Barockmusik gemacht. Das war sozusagen mein »Hauptgenre«. Im Bereich der Barockmusik gibt es unglaublich viel Repertoire, das völlig unbekannt ist. Man bleibt eher beim Mainstream, bei Händel, Vivaldi … aber die Musik ist vielfältiger. Dass dieses Repertoire unbekannt ist, liegt sicher auch an der »Faulheit« der Musiker*innen, denn es gibt viele Manuskripte, Handschriften, die nicht leicht zu lesen sind. Manche Stücke werden nur ein paar Male aufgeführt und dann nie mehr.

 

Meinst du, es hat sich über die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte ein Barock-Repertoire etabliert, auf dem man sich – drastisch formuliert – »ausruht«?

Ja, genau. Dabei gab es so viel Musik, die in der Zeit geschrieben wurde. Das liegt allein schon an der Struktur der Musikwelt. Es gab viele Höfe und fast jeder dieser Höfe hatte einen Hofkomponisten. Und die haben für jeden Anlass etwas Neues komponiert, jeden Sonntag für die Messe, zum Beispiel. Das hat sich mit den späteren »Geniekomponisten«, die einen Mäzen, also einen Privatsponsor hatten und im Leben dann neun große Symphonien komponiert haben, völlig geändert … Aber zurück zur Idee zum Konzert. Ich war auf der Suche nach Barockmusik aus Wien. Wenn man über Wien nachdenkt, ist man natürlich viel eher bei der Klassik, den Wiener Klassikern, Haydn, Mozart und Beethoven. Aber Barockkomponisten aus Wien? Da habe ich gemacht, was jede*r gemacht hätte: Ich habe »Barock«, »Wien«, »Komponist*innen«, »1750« in die Suchmaschine eingegeben. Da kamen dann verschiedene Listen mit Namen heraus, die bin ich durchgegangen und dachte immer im Wechsel: »Ah, kenne ich schon«, »Finde ich nicht so interessant«, »Finde ich nicht so gut«. Denn man muss auch zugeben: Ein Teil der Barockmusik ist in Vergessenheit geraten, weil sie einfach nicht gut gemacht und komponiert war. Dann stieß ich bei der Suche überraschend auf einen Frauennamen: Marianna Martinez. Das fand ich sofort spannend – Komponistinnen gibt es heute nicht einmal besonders viele, aber im 18. Jahrhundert … ! Als ich die ersten Aufnahmen Martinez’ Musik angehört hatte, wusste ich: Das ist richtig, richtig schöne Musik, darüber möchte ich mehr wissen! Und dann habe ich noch ihre damalige »Wohnsituation« recherchiert. Marianna Martinez hat in Wien im Michaelerplatz 4, dem Großen Michaelerhaus, gewohnt – genau wie Pietro Metastasio, der größte Librettist des Barock und auch noch der Klassik, Komponist Nicola Porpora, der junge Joseph Haydn und dann noch die Fürstin von Esterházy, ein damaliges »It-Girl« der Kulturwelt. Ist das nicht spannend?! Ich habe das Haus sogar besucht. Es gibt dort zwei Gedenktafeln: eine für Haydn und eine für Metastasio. Allerdings kein Hinweis auf Marianna Martinez oder die anderen …

 

Und das, obwohl Haydn schon als sehr junger Mann dort lebte. Als er im Alter von 18 Jahren im Michaelerplatz 4 einzog, hatte er zuvor seine Stelle als Chorknabe im Wiener Stephansdom wegen Vollendung des Stimmbruchs verloren und begann seine Laufbahn als Musiker gerade erst. Bei Nicola Porpora kam er als Gehilfe gegen Kost und Logis unter, der sich ihn als Helfer mit seinem Nachbarn Metastasio teilte ...

Eben. Haydn hat dort unter anderem Porporas Gesangsstunden als Korrepetitor begleitet und davon gelebt. Andererseits: Vielleicht wäre Haydn nicht Haydn geworden, wäre er nicht im Michaelerplatz eingezogen. Er hat dort viel gelernt und schließlich war es am Hof der Esterházys, wo Haydn als Hofkomponist arbeitete und zu großem Ansehen kam. Für Marianna Martinez waren das als Frau alles keine Optionen. Sie lebte im Michaelerplatz 4 mit ihrem Vater und ihren Geschwistern, eigentlich zur Untermiete bei Metastasio. Der hat ihre musikalische Begabung sehr früh erkannt, nahm sie mit zu Porpora und hat sie von ihm unterrichten lassen sowie von Haydn. Viele Frauen wurden zu der Zeit musikalisch ausgebildet, vor allem im Gesang oder im Spielen von Tasteninstrumenten – Marianna Martinez wollte und konnte noch mehr. Sie hat sich immer weiterentwickelt und wurde so gleich zu einer der berühmtesten Instrumentalistinnen ihrer Zeit. Und sie hat komponiert. Es gibt Zeugnisse davon, dass ein Werk von ihr in der Wiener Tonkunsthalle mit einem zweihundert Sänger*innen starken Chor aufgeführt wurde – das heißt, da muss es einen großen Interessentenkreis für ihre Musik gegeben haben, denn da ging es auch früher um eine Menge Geld. Es gibt Dokumentationen davon, dass sie ein Konzert für Kaiserin Maria Theresia gegeben und mit ihrem Sohn vierhändig gespielt hat. Und das alles als Frau! Sie war die erste Komponistin, die in den Verzeichnissen in der Accademia Filarmonica Bologna zu finden ist, das ist eine lange Liste, eine Art Telefonbuch für Komponist*innen. Marianna Martinez war in engem Kontakt zu Wolfgang Amadeus Mozart. Es gibt Briefe, die bezeugen, wie sie Ideen austauschten und Mozart hat sich von ihrer Messe in D-Dur inspirieren lassen. Das heißt ganz klar: Marianna Martinez wurde von ihren Kollegen geschätzt, als Kollegin anerkannt und auf Augenhöhe gesehen. Das ist etwas Besonderes. 

 

In der Tat ist das etwas Besonderes – Marianna Martinez hat das alles aus eigenem Antrieb geschafft. Möglich war das auch, weil der ältere Pietro Metastasio – ein Star der Opernwelt in einer Zeit, in der der Librettist noch der Erwähnenswertere gegenüber dem Komponisten war – ihr und ihren Geschwistern sein gesamtes Vermögen vermachte. Sie musste nicht heiraten, um als Frau eines reichen Mannes zu ihrer »Beschäftigung« musizieren zu »dürfen«. Sie komponierte und wurde eine Frau der Gesellschaft. Sie veranstaltete Treffen, fast Vorläufer der späteren Salons, bei denen die Musikwelt zusammen und in den Austausch kam … Das alles auch dank ihres Wohnsitzes im Michaelerhaus. Persönlich habe ich schon in einigen Wohngemeinschaften gelebt, aber so eine … wie war das bei dir?

Sagen wir so: Größeres, kreatives Schöpfungspotenzial war da meistens nicht dabei. (lacht) Und das Michaelerhaus ist noch mehr als eine Wohngemeinschaft: Die Personenkonstellation macht das Gebäude für mich zu einer Brücke der Zeit, der Epochen: Wir haben mit Porpora eine Art »Rockstar« des Barock einerseits und andererseits mit Haydn einen der drei wichtigsten Musiker der Klassik, neben Mozart und Beethoven natürlich. Ich stelle mir das Haus so vor, als könnte man darin die Treppe von einer Epoche zur nächsten hochgehen, ohne den geografischen Punkt zu verlassen. Das ist doch wie eine Zeitmaschine!

 

Und Marianna Martinez ist dabei eigentlich eine Schlüsselfigur: Metastasio, der Älteste, gefolgt von Porpora, dann kommt sie und darauf der junge Haydn, der später den Weg zur Klassik ebnen sollte.

 Ja, genau!

 

Apropos Musik, liebe Mayan: Was erwartet uns?

 Für mich ist die Musikauswahl zu diesem Konzert wie ein Süßwarenladen: Von allem ist das Beste dabei! Musikalisch liegen wir mit dem Programm in einer Zeit, in der der Gesang und die Stimme und was ich als Sängerin mit meiner Stimme tun kann, sehr im Fokus stehen. Das Konzert sind sechzig Minuten »Bravura«. Es gibt Stellen, die sind unheimlich hoch, unheimlich tief, es gibt viele Koloraturen – diese Musik ist ein Feuerwerk vom Anfang bis zum Ende. Und das Tolle an der Musik aus der Klassik und dem Hochbarock ist: Sie ist unglaublich schön! Es sind einfach schöne Melodien, es macht Spaß, zuzuhören und ist nie unangenehm oder überfordernd – fast schon wie Popmusik. Das Publikum kann wirklich genießen, volle sechzig Minuten lang. Auch die Virtuosität der Stücke hat nicht die Absicht, nur den »technischen« Aspekt zu zeigen oder nur zu demonstrieren, was möglich ist, sondern auch, sehr viele Facetten davon zu bieten, welche Emotionen die Stimme ausdrücken kann. Besonders bei zwei Kantaten des Programms, die auf demselben Text von Metastasio komponiert sind, gibt es Vieles zu entdecken. Es geht um eine weibliche Figur aus der Oper Antigono, die im Moment der völligen Verzweiflung steckt und hin- und hergerissen ist in ihren Gefühlen: Sie ist niedergeschlagen, dann ist sie euphorisch und wird darauf wirklich wütend. Beide Kantaten sind eine Tour de Force des Gesangs und der Gefühle und man kann gut hören, was ich beschrieben habe: Wie tief kann sie singen? Wie hoch kann sie singen? Wie viel Legato kann sie tragen, bevor sie innerhalb einer Millisekunde in unglaubliche Koloraturen wechselt … Diese emotionale Vielfalt, diese weibliche Vielfalt und die weibliche Rache finde ich unglaublich komponiert und in dieser Zeit auch nicht unbedingt überall akzeptiert. Da eine Komposition der Scena Berenice von Martinez und die andere Vertonung von Haydn stammt, kann man daran auch Schlüsse ziehen, inwiefern sich männliche und weibliche Interpretation desselben, hochemotionalen Textes ähneln oder unterscheiden.

 

Martinez’ Komposition der Scena Berenice ist im Jahr 1767, Haydns einige Jahre später, 1795, entstanden. Da haben wir doch eigentlich genau, wovon du gesprochen hast: den Übergang zwischen Barock, dessen Ende auf das Jahr 1750 datiert ist, und der Wiener Klassik, deren Beginn im Nachhinein auf das Jahr 1780 festgelegt wurde. Wir haben also sowohl den Gegensatz männlich – weiblich, als auch den Umbruch barock – klassisch. Wie klingt das jeweils für dich?

Martinez’ Vertonung der weiblichen Rache hat viel mehr Eifer, viel mehr Feuer. Man hört in ihrer Musik schon die Einflüsse von Porpora, der viel für seinen Schüler, den Gesangsvirtuosen und Gesangstar Farinelli schrieb. Dazu kommt, dass Barockmusik immer etwas »schmutziger« ist. Im Gegensatz dazu klingt Haydn beinahe »nett« oder »brav«, sein Werk ist geordneter. Was man aber auch hört, ist, dass sie sich beide, Martinez und Haydn, gegenseitig in ihrem Stil beeinflusst haben. Beide haben viele chromatische Elemente eingebaut, das ist schon eher ungewöhnlich in der Zeit, Haydn hat ihre Version womöglich gekannt. Mir passiert es jedenfalls manchmal, dass ich beim Proben von der einen in die andere Kantate der Scena Berenice rutsche … (lacht). Dabei festigt sich bei mir der Gedanke, dass kein kreativer Prozess in einem Vakuum entsteht, dass alles, was wir tun, einen Kontext hat und sich immer genau darauf bezieht. Umso mehr finde ich aber auch schade, dass Marianna Martinez heutzutage kaum eine Rolle spielt, obwohl sie so wichtig war für die Musik und ihre gesamte Entwicklung.

 

Man muss ihr Werk heute wieder wie einen Schatz bergen, sie ausgraben – Marianna Martinez ist nur sehr wenigen bekannt und man bemerkt einmal mehr, wie Geschichtsschreibung eigentlich funktioniert …

Das ist es, was ich meine und dachte, als ich begonnen habe, mich mit ihr zu beschäftigen. Wir haben auch gerade den Monat März, den Women’s History Month, den Internationalen Frauentag. Und Marianna Martinez ist übrigens eine wirklich gute Komponistin gewesen, es geht eben nicht darum, dass sie eine Frau ist. Sie war talentiert, begabt, angesehen, hatte beste Kontakte und hat viele Werke geschaffen. Sie war einfach nur nicht so privilegiert wie andere, das ist ungerecht.

 

Umso mehr kann man sich auf das Kammerkonzert mit dir freuen, indem du uns einen Teil ihrer Werke und auch ihre Person vorstellst. Neben dir als Sängerin, wer ist noch Teil des Ensembles?

 Anne Hinrichsen ist dabei und spielt Cembalo. Wir arbeiten wirklich gerne zusammen, auch persönlich, ich habe sie sehr gern. Mit ihr ist auch die Idee zum Konzert entstanden. Wir haben ein Barockkonzert zusammen besucht und waren uns einig: Es war sehr schön, angenehm, sehr, sehr nett. Die Musiker*innen haben ein gutes Konzert auf hohem Niveau gespielt, aber für unseren Geschmack war es doch zu brav. Es war ein bisschen viel Klischee darin. Im Wort »Barock« steht auch das Wort »Rock« – das wollten wir darin hören. Anne und ich machen gern auch Popmusik, Jazz und alles Mögliche zusammen, haben unseren Groove in der Zusammenarbeit gefunden. Wir haben uns vorgenommen: Wenn wir uns mit Barockmusik beschäftigen, muss es rocken! Und es ist wirklich so, dass ich, wenn ich diese Musik höre, so eine Lust auf Headbanging bekomme. Barockmusik kommt einfach so sehr aus dem Bass. Wir wollten, dass unser Konzert mit einem Publikum endet, das Lust hat, die Hüften zu schwingen! (lacht) Neben Anne ist auch Jule Hinrichsen, ihre Schwester, am Cello Teil des Ensembles, sie ist Barockexpertin und spielt in verschiedenen Ensembles für Alte Musik, z.B. der lautten compagney BERLIN. Sie ist ebenfalls eine große Unterstützung bei diesem Konzert. Und dann sind noch Musiker*innen der Bielefelder Philharmoniker dabei, mit denen es sehr viel Spaß macht, zu musizieren: Natalie Rink und Karin Leister, die Violine spielen, Bratschistin Katrin Ervin, Pedro Dias Moreira – der einzige Mann in unserem Ensemble – und Hana Nomura spielen Oboe. Das wird toll!

 

Da können wir sehr sicher und vor allem gespannt sein! Vielen Dank für das Gespräch, liebe Mayan, und TOI TOI TOI für das 6. Kammerkonzert!

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