Spartenübergreifend bedeutet für mich ...
Intendantin Nadja Loschky im Interview mit Inter-Sparten-Manager Alban Pinet.
»Veränderung macht mehr Freude, wenn man sie bewusst annimmt und ihr mit Offenheit begegnet.«
Liebe Nadja, wenn ich dir „spartenübergreifend“ sage, woran musst du als erstes denken?
An eine wunderbar bereichernde, überaus spannende Herausforderung! Letzten Endes ist es doch so: In jeder Sparte gibt es Expert*innen, die sich auf ihren jeweiligen Bereich spezialisiert haben. Diese Expertise ist etwas, worauf Menschen hinarbeiten, und es ist wichtig und wertvoll, dass es sie gibt. Das sollte auch bleiben. Besonders spannend finde ich jedoch das spartenübergreifende – oder noch besser das spartendurchlässige – Arbeiten. Diese Art des Arbeitens bietet die Möglichkeit, ganz neue Perspektiven zu gewinnen. Andere Expert*innen bringen ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Sichtweisen in eine Zusammenarbeit ein und erweitern damit den eigenen Blickwinkel. Es ist faszinierend, wie ein solcher Austausch Prozesse anstößt: Man arbeitet mit unterschiedlichen Mitteln und Fähigkeiten gemeinsam an einem Thema oder einer Geschichte. Diese Vielfalt fördert kreative und dynamisches Lösungsansätze und eröffnet neue Wege. Genau das macht für mich den großen Reiz solcher Kooperationen zwischen den Sparten aus.
Du hast in der Spielzeit 2023/24 beim Schauspielstück else (someone) Regie geführt. Darin hast du Dorėja Atkociunas, Chiara Ducomble und Ronja Oehler, das Bielefelder Studio dieser Spielzeit, besetzt. Mir hat die Produktion sehr gefallen, besonders, weil die Sparten darin total gut vermischt wurden. Tanz war zum Beispiel nicht direkt präsent, aber die Körperlichkeit und die Physis der Charaktere waren unglaublich betont. Inwiefern hast du dich bewusst für eine interdisziplinäre Arbeit entschieden?
In diesem Fall war es gar nicht so, dass ich explizit dachte: „else (someone) muss jetzt ein interdisziplinäres Stück werden.“ Ursprünglich war die Produktion als Schauspiel angesetzt. Parallel zu den Vorbereitungen des Stückes kam die Frage auf, wie wir das Bielefelder Studio sinnvoll einbinden könnten. Aus den Erfahrungen der vorangegangenen Jahre wussten wir, dass es sehr hilfreich ist, wenn die Studio-Darsteller*innen einen gemeinsamen Start haben. Daher dachte ich in erster Linie aus der Perspektive der Hausleitung und weniger aus der Produktion heraus: Es wäre toll, den drei Studiomitgliedern diese Möglichkeit eines gemeinsamen Anfangs zu bieten. Wenn das im Rahmen der Arbeit nicht möglich gewesen wäre, hätte ich es nicht angestoßen. Zufällig waren aber in diesem Jahr alle drei Teilnehmerinnen des Studios junge Frauen, und das passte perfekt zu unserem Besetzungskonzept für else (someone), bei dem wir bewusst nur weiblich gelesene Spielerinnen einsetzen wollten. So fügte sich alles nahtlos zusammen. Was dann während der Arbeit entstand, war spannend: Jede der Spielerinnen brachte ihre individuellen Fähigkeiten ein, was wiederum die anderen beeinflusste. Zum Beispiel hat Dorėja mit ihrer Körperlichkeit und ihrer explosiven Energie die Gruppe inspiriert, während Chiara mit ihrem musikalischen Hintergrund automatisch das Warm-up im Gesang übernommen und die musikalischen Nummern mit den Kolleginnen geprobt hat. Jede Künstlerin ließ sich von den Fähigkeiten der anderen inspirieren und herausfordern. Jede Expertise wurde integriert und trotzdem verschmolzen die individuellen Beiträge zu einem Ganzen. Am Ende entstand ein Theaterabend, bei dem es – hoffentlich – nicht mehr darum ging, wer Tänzerin oder Schauspielerin ist, sondern bei dem alles zu einem stimmigen Gesamtbild wurde.
Das spartenübergreifende Bielefelder Studio existiert mittlerweile seit fast fünf Jahren. Was bedeutet es für dich?
Ich habe das Gefühl, dass ich langsam ein besseres Verständnis dafür entwickle, wie das Studio funktioniert. Das bedeutet aber nicht, dass wir einen festen Status quo erreicht haben – im Gegenteil. Gerade zu Beginn war es ein Prozess des Erfahrens und Lernens. Eine wichtige Erkenntnis war beispielsweise – wie bereits erwähnt –, dass es für die Studioteilnehmer*innen hilfreich ist, wenn sie gemeinsam im Haus starten können, statt an unterschiedlichen Stellen und Zeiten anzufangen und sich vielleicht erst gegen Ende der Spielzeit zu begegnen. Diese Einsicht haben wir durch die Erfahrungen der vergangenen Jahre gewonnen, aber auch durch kontinuierliches Feedback. Nach jedem Jahrgang haben wir uns mit den Teilnehmer*innen und innerhalb des Hauses zusammengesetzt, um zu reflektieren: Was funktioniert gut, was weniger? Das hat uns enorm weitergebracht. Ein großer Schritt ist nun, dass das Studio über zwei Jahre läuft und nicht mehr nur über ein Jahr. Das ist eine wesentliche Neuerung im fünften Jahr und ein echter Gewinn. Wir haben erkannt, dass man in einem Jahr gar nicht alles unterbringen kann, was man möchte. Zudem sind die Teilnehmer*innen oft schon ab der Mitte der Spielzeit mit der Frage beschäftigt, wo sie anschließend Anschluss finden. Jetzt haben sie zwei Spielzeiten Zeit, um wirklich anzukommen und sich zu entfalten. Ich hoffe sehr, dass wir auch in Zukunft die Möglichkeit haben werden, das Studio weiterzuentwickeln – durch Experimente, Erneuerungen und Verbesserungen. Es gibt noch so viele spannende Wege, die wir gehen können.
Wann hast du zuletzt gedacht: „Das Bielefelder Studio macht Sinn. Der spartenübergreifende Gedanke geht auf!“?
Das denke ich eigentlich ständig – und nicht nur in Bezug auf die Produktionen, obwohl es dort natürlich besonders sichtbar wird. Es ist ein tägliches Gefühl, wenn ich die Studioteilnehmer*innen sehe: in der Kantine, in ihren Produktionen oder einfach, wie sie sich in den Alltag des Hauses einfügen. Besonders beeindruckend ist für mich, wie sich die Dynamik im Haus verändert. Gesprächsrunden entstehen ganz neu, Menschen kommen in Austausch, die vielleicht vorher wenig Berührungspunkte hatten. Selbst am Kaffeeautomaten sehe ich, wie sich Begegnungen entwickeln. Und dabei spielt das Studio eine zentrale Rolle. Das Studio ist mittendrin und trägt aktiv zu dieser besonderen Atmosphäre bei. Obwohl wir noch nicht einmal in der Hälfte der Spielzeit sind, hat sich schon eine Natürlichkeit entwickelt, mit der sich die verschiedenen Sparten begegnen – sei es in Gesprächen, bei Umarmungen oder in der Zusammenarbeit. In all diesen Momenten habe ich das Gefühl: Es geht voll auf.
Mit der Doppelintendanz hast du zusammen mit Michael Heicks ein Zeichen für Kontinuität gesetzt. Inwiefern wird deine künstlerische Vision die spartenübergreifende und interdisziplinäre Arbeit weiter vorantreiben? Welchen Platz hat spartenübergreifende Arbeit in deiner Intendanz?
Das interdisziplinäre Arbeiten hat für mich einen großen Stellenwert. Michael und ich waren uns da schon sehr ähnlich, bevor wir gemeinsam in der Doppelspitze tätig wurden, da wir beide eine große Leidenschaft für spartenübergreifende Ansätze mitbringen. Meine erste Arbeit am Theater Bielefeld war Madame Butterfly [Premiere: 27.09.2014 am Stadttheater]. In dieser Inszenierung war die Hauptrolle Cio-Cio-San gedoppelt: Eine Schauspielerin war während der gesamten Produktion als Figur neben der Sängerin auf der Bühne präsent. Bei meiner zweiten Arbeit Death in Venice [Premiere: 11.06.2016 am Stadttheater] gab es einen Tänzer, der eine Rolle innerhalb des Sänger*innen-Ensembles übernahm. Dieses interdisziplinäre Arbeiten liegt mir als Regisseurin sehr nahe, und hier am Haus durfte ich noch einmal erleben, wie bereichernd, aber auch herausfordernd es für den gesamten Betrieb ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Arbeitsweise auch in Zukunft einen zentralen Platz einnehmen wird. Michael wird hier weiterhin als Regisseur tätig sein und bringt nicht nur ein großes Faible für spartenübergreifende Produktionen mit, sondern hat in den letzten Jahren auch gezeigt, wie erfolgreich solche Arbeiten sein können. Ich bin sicher, dass wir in der Zukunft wieder spannende spartenübergreifende Produktionen von ihm sehen werden. Diese Kontinuität ist mir also ausgesprochen wichtig.
Wenn du eine Sache an dem Studio sofort ändern könntest, welche wäre es?
Ich glaube, ich würde nichts am Studio selbst ändern, sondern ich würde mir einfach wünschen, dass auf Dauer auf dem deutschen Theatermarkt Stellenprofile erscheinen, die dem Studiogedanken entsprechen. Denn die Studio-Spieler*innen, -Sänger*innen und -Tänzer*innen gehen danach in eine Theaterwelt, wo es eigentlich keine Stellen gibt, die dem Studiocharakter entsprechen. Sie müssen danach entweder zurück ins Expertentum oder sie gehen in die freie Szene und arbeiten performativer.
Welche Hürde oder Komponente macht uns wenig beweglich, wenn du an das Bielefelder Studio und dessen Vision denkst, eine gegenseitige Bereicherung und Befruchtung der Sparten zu erzielen?
Ein Stadttheater mit mehreren Sparten ist dispositionell ein unglaublich komplexes System. Allein die Aufgabe, die einzelnen Sparten so zu verzahnen, dass die Bühnenzeit optimal genutzt wird, ist enorm herausfordernd. Es geht darum, Leerstellen zu vermeiden, eine gerechte Verteilung der Bühnenzeiten sicherzustellen und die drei Häuser so zu koordinieren, dass sie sich nicht gegenseitig ausbremsen. Das alles ist schon bei nicht-spartendurchlässigen Produktionen eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber wenn man dann noch sagt: „Wir kombinieren Elemente aus den einzelnen Sparten und arbeiten spartenübergreifend“, wird es dispositionell zu einer echten Meisterleistung. Unsere Chefdisponentin leistet hier großartige Arbeit. Auch wenn wir sie mit unseren Ideen sicher regelmäßig an den Rand des Wahnsinns treiben, stellt sie sich dieser Herausforderung jedes Mal aufs Neue und sucht nach Lösungen. Diese Koordination ist mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen für ein Mehrspartenhaus – und es ist beeindruckend zu sehen, wie sie immer wieder gelingt.
Wie lassen sich der Wunsch nach spartenübergreifender Arbeit und der Wunsch nach intakten Spartenexpertisen vereinen?
Ich glaube, das ist immer eine Frage der Offenheit und Flexibilität. Es ist absolut in Ordnung, wenn es auch Produktionen gibt, die ganz bewusst vollständig in ihrer Sparte bleiben. Die Sparten an sich und das Expert*innentum sollen ja nicht abgeschafft werden. Darum ging es nie. Letzten Endes geht es immer darum, welche Geschichte wir am Theater erzählen wollen und welche Mittel dieser Geschichte am besten entsprechen. Es gibt viele Themen, bei denen eine Spartendurchlässigkeit eine große Bereicherung darstellt. Sie schafft Mehrstimmigkeit, Vielschichtigkeit und ermöglicht das Einbringen unterschiedlicher Fähigkeiten und Perspektiven. Gleichzeitig finde ich es aber genauso legitim, wenn ein Produktionsteam entscheidet, monospartig zu bleiben – sei es aus künstlerischen oder inhaltlichen Gründen. Für mich schließt das eine das andere nicht aus. Im Gegenteil, es ist wichtig, sich die Freiheit zu bewahren, beides denken und umsetzen zu können. Die Entscheidung sollte sich immer an der Geschichte und ihrer Erzählweise orientieren, nicht an einem festgelegten Prinzip.
Nicht nur das Bielefelder Studio soll unserem Theater eine zukunftsweisende Qualität bringen, auch die Intersparty, die Steuerungsgruppe für Organisationsentwicklung, arbeitet daran, unsere Vision für ein Theater der Zukunft immer wieder ins Visier zu nehmen und schauen: „Was brauchen wir, um dorthin zu gelangen?“ Welche Gründe gibt es dafür, dass wir uns verändern wollen? Warum kann nicht alles bleiben, wie es bis jetzt war?
Ich glaube, zu sagen „Alles bleibt, wie es ist, weil es gut so ist“, ist der Tod von allem. Dieser Gedanke führt dazu, dass alles stagniert und irgendwann abstirbt. Veränderung ist essenziell, weil Leben Veränderung bedeutet. Wer lebt, verändert sich – ob gewollt oder ungewollt. Allerdings macht es mehr Freude, wenn man Veränderungen bewusst annimmt und mit Offenheit begegnet. Veränderungen entstehen durch Impulse, durch Begegnungen, und sie setzen automatisch Prozesse in Gang. Ob diese Veränderungen groß oder klein sind, schnell oder langsam vonstattengehen, sie gehören zum Leben dazu. Und das Theater, als kleiner Gesellschaftskosmos, reagiert darauf. Unsere Welt, unsere Gesellschaft befinden sich im ständigen Wandel und das Theater spiegelt das wider. Was ich dabei besonders spannend finde, ist der Perspektivwechsel, der notwendig wird. Im Theater arbeiten wir oft sehr eng zusammen und doch denkt und agiert jede Sparte, jede Abteilung aus ihrer eigenen Perspektive. Es ist eine Herausforderung, die Sichtweisen und Bedürfnisse der anderen anzuerkennen, aber genau das ist ungemein wichtig. Wenn man spartenübergreifend oder spartendurchlässig arbeitet, muss man zwangsläufig in den Austausch gehen – oft bis ins kleinste Detail. Dieser Prozess verlangt, sich auf Veränderung einzulassen, und er schenkt neue Perspektiven und Verständnis. Das empfinde ich als großes Geschenk und als Chance, nicht nur für das Theater, sondern für jede Form der Zusammenarbeit. Beim spartenübergreifenden Arbeiten geht es darum, Regeln und Strukturen zu finden, in denen man sich gut bewegen kann. Man lotet Grenzen aus und setzt neue Horizonte.
Lass uns einmal träumen: Was wäre für dich ein ideales, ein richtig spartenübergreifendes Projekt für das Theater Bielefeld?
Ein Traum wäre ein wirklich gigantomanisches Projekt – eine Art Welttheater, in dem alle Sparten zusammenkommen. Das wäre etwas ganz Besonderes, vor allem, wenn die Zusammenarbeit auf Augenhöhe geschieht. Natürlich wäre das ein enormer Vorbereitungsprozess und eine logistische Mammutaufgabe. Im normalen Betrieb, wie wir ihn kennen, wäre das in dieser Form wahrscheinlich nicht umsetzbar. Aber ich denke nicht, dass es unmöglich ist. Es erfordert lediglich eine langfristige Planung und die Bereitschaft, die entsprechenden Strukturen für eine Saison zu schaffen, in der so etwas stattfinden könnte. Wenn es gelingt, wäre es ein wahnsinnig aufregendes Projekt – eine echte Vision für die Zukunft.
Was wünschst du dir und unserem Haus für die Zukunft?
Ich wünsche mir für unser Haus, dass uns das Bielefelder Studio noch viele Jahre erhalten bleibt. Ich bin überzeugt, dass es hier noch unglaublich viel zu erforschen gibt. Ohne die Fördergelder wäre dieses Projekt jedoch nicht möglich, und ich hoffe, dass wir auch langfristig auf diese Unterstützung zählen können. Das Studio ist etwas, das in der Theaterlandschaft einzigartig ist und bereits jetzt Modellcharakter entwickelt hat. Es bereichert nicht nur unser Haus, sondern auch die Theaterlandschaft insgesamt. Es wäre großartig, wenn wir diesen Weg weitergehen, weiterforschen und uns kontinuierlich weiterentwickeln dürfen.